AKTUELLES

(gießen, den 22. Dezember 2020) Zum Abschluß des recht mageren Arbeitsjahres nochmal ein bisserl Gundermann gesungen. War ein schöner Abschluß, zum einen, weil es viel Spaß gemacht hat und zum anderen, weil es mir noch einmal klarmachte, daß es nicht nur ein Scheißjahr war dieses 2020, sondern das mir doch einiges an Hilfe, Emphatie, Solidarität und Unterstützung zuteil wurde. Und da meine ich nicht nur das Finanzielle. Dafür bedanke ich mich herzlichst. Allen die hier vorbeischauen wünsche ich ein friedliches und stilles Fest und ein gutes neues, zuversichtliches und vor allem gesundes Jahr das uns hoffentlich irgendwann wieder freier atmen und arbeiten lässt, auch wenn es noch dauern mag. Glück auf! Jeder Nebel lichtet sich irgendwann. Und das ist neu.

(giessen, den 7. Dezember 2020) Vor fünfzig Jahren Willy Brandts Kniefall vor dem Ghetto – Ehrenmal in Warschau. Diese Geste hat mich, der ich damals eben 14 Jahre alt geworden war, beindruckt und beeinflußt wie wenig anderes. Damals, das Bild des Engelbert Reineke war omnipräsent, ganz gewiß etwas Unbewußtes anrührend. Wir, wie viele Familien zu der Zeit, waren Mitglied im Bertelsmann – Leseclub und seit Mitte oder Ende der 60er war ein dicker Schmöker namens „Unser Jahrhundert im Bild“ Bestandteil der schmalen Hausbibliothek. Immer wieder nahm ich als Bub das Buch mit mehr Bildern als Worten in die Hand, blätterte es durch und durch und wie ferngesteuert und vom Schrecken angezogen, blieb ich immer wieder hängen an diesen 5 bis 6 Seiten, welche das abfotografierte Grauen von Auschwitz, Birkenau, Buchenwald, Bergen – Belsen zeigten. Noch heute erinnere ich mich bildhaft, daß das Foto, welches mich am meisten verstörte nicht das eines der Leichenberge oder der eben befreiten Untoten hinter Stacheldraht war, sondern eine Abbildung von vielleicht 10 oder 15 Lager - Aufseherinnen. Welches Lager, ich weiß es nicht mehr. Breitschultrige, gut genährte Frauen mit von Kälte, Brutalität und – dies vor allem – grenzenloser Stumpfheit und Leblosigkeit geprägten Gesichtern. Und ich dachte, ohne es zu wissen, auch ich bin Angehöriger der Täter, schuldig oder nicht. Zu der Zeit waren selbst im sich komplett unschuldig gebenden Konstanz die Folgen des Krieges noch gut sichtbar. Der Mann unten am Bahnhofskiosk, wo ich für meinen Vater Bier und Zigaretten kaufte, hatte eine Holzhand, einem Nachbarn fehlte der Unterschenkel, mein Geschichtslehrer hatte nur einen Arm und der Englischlehrer ein Glasauge und (so munkelte man) Granatsplitter im Kopf, weshalb ihm im Sommer bei großer Hitze gerne mal – so sagte man damals – die Hand ausrutschte. Außerdem grenzte an das Freibad Hörnle, wo wir Kinder den halben Sommer verbrachten, ein sogenanntes Versehrten- und Invalidenbad. Durch nicht ganz blickdichte Hecken konnten wir die vom Krieg zerstörten Körper beim Bad im Bodensee betrachten, hin und her gerissen zwischen Faszination und Abscheu und trotzdem: es war fester Bestandteil des Alltags: die Deformation, auch wenn von vielen ausdauernd geleugnet. Die Amputationen der Körper waren sichtbar, von denen an den Seelen sollte ich erst später erfahren. Und dies bis heute. Fast auf den Tag genau 20 Jahre nach Brandts Kniefall, ich war inzwischen Schauspieler, stand ich im Dezember 1990 in Warschau vor dem Ehrenmal, unter meinen kalten Füßen die Trümmer des Warschauer Ghettos, in meinem heißen Kopf das Bild des knienden, betenden Kanzlers. Damals war ich in Münster engagiert und wir waren vom Goethe-Institut eingeladen in Posen, Krakau, Warschau und Opole unsere Inszenierung von George Taboris „Mein Kampf“ zu zeigen. Ich spielte den Shlomo Herzl. Was ich damals an historischer Stelle begriff, aber nicht formulieren konnte und immer noch so begreife, fasste in Worte einst Hermann Schreiber im Spiegel: „Dann kniet er, der das nicht nötig hat, da für alle, die es nötig haben, aber nicht da knien – weil sie es nicht wagen oder nicht können oder nicht wagen können. Dann bekennt er sich zu einer Schuld, an der er selber nicht zu tragen hat, und bittet um eine Vergebung, derer er selber nicht bedarf. Dann kniet er da für Deutschland.“ Ich denke an die die Reichkriegsflaggen schwenkten auf den Reichtagstreppen und im Bundestag rumpöbelten. Denke nach über Demut und Verantwortung, die man übernimmt, auch wenn ohne Schuld. Freiwillig. Wie wäre es: jeden Sonntag nach dem Frühstück kurzmal – 14 Sekunden waren es damals bei Brandt – niederknien und der in der vorhergegangenen Woche Verstorbenen gedenken? Wenn eh schon die Adventskerze brennt? Es sind jetzt schon zu viele, die täglich - genau - verrecken.

(gießen, den 3. dezember 2020) Das kleine "Konzertle", welches ich im September im Auftrag der Stadt Gießen eingesungen habe, ist jetzt online. Eine schöne Geschichte, auch wenn ich beim Schauen in meine Augen das fehlende Publikum erblicke. Mitte des Monats wird im Rahmen eines anderen und sehr zu lobenden Formats ein weiterer kleiner Auftritt von mir ins Netz gehen. Mit Ausschnitten aus meinem Gundermann - Solo. Dranbleiben.

(giessen, den 25.10.2020) Tja, was wird wohl werden mit diesem Herbst? Und erst recht mit dem noch folgenden Winter? Fragen wir nach im All, bei den Auguren, die blicken in die Eingeweide der Tauben, bei all den Experten und den Expertisen und bei jenen, die schon bevor das alles losging, genau wußten wohin der Hase lang löppt, so rum oder anders rum. Ich weiß es nicht. Ich hoffe, daß meine zwei nächsten Auftritte (1. und 6. November) noch stattfinden werden. Danach, denke ich mal, wird irgendwann wieder der gesellschaftliche Rolladen runtergelassen werden, auch wenn wir wie die Kinder ganz fest uns gegenseitig die Augen zudrücken und Petersilie in die Ohren stopfen, in der Hoffnung der Krug geht an uns vorüber und bricht dem Nachbarn in den Garten. Da denke ich als Realist, der dem hoffnungsfrohen Pessimismus zugeneigt bleibt, wahrscheinlich ist es besser dies schnell und schmerzhaft zu tun, als es auf unendlicher langer Bank vor sich herzuschieben und so noch mehr Langzeitschädigungen in Kauf zu nehmen. Man kennt das ja aus privaten Krankheitsgeschichten. Leugnen bringt nix. Und so berechtigt das ist die Politik in die Verantwortung zu nehmen, auch Hilfen einzufordern vom Staat, Ungerechtigkeiten und Ungleichheiten zu benennen, muß ich doch – altersbedingt oder weil Dylan mal wieder darauf hingewiesen hat? – dieser Tage öfters an das berühmte JFK – Zitat denken: „Frag nicht, was Dein Land für Dich tun kann, sondern frag Dich, was Du für Dein Land tun kannst.“ Klingt wohl schrecklich altvordern moralisch bääh, aber Gott, nur dumm ist das nicht. Der große Kuchen auf dem Freiheit steht, und der ist in unserem Land immer noch ordentlich groß, schrumpft dieser Tage gehörig zusammen. Von daher ist es uns allen geraten geduldig und vernünftig drauf zu schauen, daß für jeden ein angemessenes Krümelchen der Freiheit auf dem Teller liegen bleibt. Las kürzlich dazu einen sehr schönen Kommentar in der taz. Den verfaßte ein Ingo Arzt. (Danke fürs Verwursten! Der Säzzer!) Natürlich dachte ich zuerst, in diesen Zeiten der Seltsamkeiten, das ist jetzt ein großer, dummer Witz - Ingo Arzt!!! - aber nein: es ist ein sehr guter Text. Bleiben wir heiter. Schwer genug, aber geht. Schaut man mal nur ein paar Jährchen zurück. Dazu noch ein sinnvoller Text. Auch dafür Dank. Was mich entspannter in die nächsten Wochen sehen lässt: die Herbstferien gehen endlich zu Ende, die Ameisen in den Hintern kommen zum Stillstand und die, die die Reise sich leisten können oder müssen (?), kehren nun heim.

 

(update am 30.10.2020) Da isser wieder, der Lockdown. Und wieder trifft es meine Branche mit voller Wucht. Meine Zweifel an dieser Entscheidung wachsen. Die Theater und Veranstalter und auch das ehrenwerte Publikum in Sachen Kultur sind eher sehr gewissenhaft, was die Corona - Empfehlungen angeht. Regeln sind dies ja nicht wirklich. Regeln sind erst dann Regeln, wenn die Einhaltung der selbigen eingefordert wird. In den Theatern ist das oft der Fall. Woanders eher: na ja. Und da lügt sich unsere auseinanderdriftende Gesellschaft halt ordentlich einen in die Tasche in Sachen solidarischer Vernunft. Tausende Aluköppe demonstrieren maskenfrei, die Staatsmacht läßt sie gewähren, in Bahnen und Bussen blanke Nasen, aber ich darf in einer 300 Menschen fassenden Kirche nicht vor knapp 50 maskierten Leuten, 1,50m auseinander gesetzt, auftreten? Nun gut, man tut, was zu tun ist und versucht vernünftig und umsichtig zu bleiben, jammert nicht rum und kauft sich eine neue Maske. (siehe unten) Und vielleicht aber ist auch diese Position die richtig gedachte! Der Hirnkasten juckt, das Abwägen ist das anstrengende. Der alte Voltaire hat schon recht: "In einer irrsinnigen Welt vernünftig sein zu wollen, ist schon wieder ein Irrsinn für sich!" Man weiß nicht, wo man hindenken oder - fühlen soll. Ist man aber nicht allein damit!

(giessen, den 6.10.2020) Schon vor Jahresfrist, während der nicht unanstrengenden Arbeit an der "Tankstelle  für Verlierer", dachte ich gelegentlich: "Lugerth, mach ein Gundermann - Solo!" Was länger währt und so weiter. Jedenfalls: Das war ein schöner Auftritt am Tag der deutschen Ein  / Zwei oder wie auch immer - heit. Ein sehr zugetanes Auditorium. Ein großartiger Raum, den ich ja schon bei meiner Inszenierung von "Judas" schätzen lernte. Vielen, vielen Dank, Herr Pfarrer Ohl. Und heute eine wunderbar fundierte Besprechung in der Zeitung. Dafür und für die Fotos danke ich von Herzen Herrn Heiner Schultz. Am 16. Oktober und am 6. November werde ich den Abend nochmals in der Pankratiuskapelle zum Besten geben. Die Arbeit jenseits der Strukturen macht viel Freude.