AKTUELLES

(gießen, den 20. februar 2020) Neunzig Prozent aller E – Mails, die man erhält, nerven, sind unnötig. Gut, sagen wir es sind achtundsiebzig Prozent. Um so erfreulicher jede Nachricht, die dich anrührt. Vor jetzt auch schon über sechs Jahren hatte ich in der JVA Butzbach im Rahmen der „legendären“ Kulturgruppe einen Woyzeck inszeniert. Einer der Höhepunkte meines „Schaffens“. Nun leitete mir der damalige Spiritus rector der Veranstaltung ein Bild weiter. Drei nicht unwesentlich Beteiligte trafen sich unlängst. In Freiheit und in Serbien. Der Darsteller des Franz Woyzeck war einer der Drei. Man berichtete mir, er könne den Text immer noch auswendig. Es gibt wohl Begegnungen und Erfahrungen, die bleiben lange wertvoller Bestandteil der eigenen Biographie. Freue mich dabei gewesen zu sein. Siehe hier. Die Genossen sind aus dem Winterschlaf zurück und denken in der Gegend herum.

(gießen, den 14. januar 2020) Nennen wir es mal Gegenbesuch. Hoyerswerda kam zwar nicht bis vor meine Haustüre, aber zumindest bis nach Lich. Statt Gießen. Das war eine schöne Begegnung letzten Sonntag. Kurz, aber voller Inhalt. Im Licher Traumstern lief eine großartige Doku - ich hatte schon die Erstaustrahlung im MDR gesehen - über Gundermann vor sehr gut gefüllten Sitzen. Anschließend eine von der Regisseurin souveränst geführte Fragestunde zu ihrer Arbeit, Gundi, der obligatorischen Stasifrage und dem Osten überhaupt. Und Hinweise auf Gießen und Gundi. Dann hatten wir noch ein bisserl Zeit für übereinstimmende Gedanken. Also: manchmal lesen ja auch Indentanten die Heimatseiten ihrer Mitarbeiter. Idee: unser Theaterabend fährt nach Hoyerswerda. Wir spielen fleißig weiter in Gießen, anschließend dürfen die Zuschauer Grit Lemkes großartigen Film gucken. Oder andersrum. Und justament bemailte mich heute ein Freund mit der Nachricht, er habe nun genug von Herrn Gunderman in und um Gießen. Darf ich gerne verstehen, aber solange am Horizont nicht Neues aufploppt, wird weiter verwurstet und gedacht zum Thema. Der Gundi und vor allem, die von ihm in Gang getretene Nachdenkarbeit in Sachen "Was war das eigentlich mit der DDR, lieber Westwisser?" haben es verdient.

(gießen, den 7. januar 2020) „sag wie soll ich tragen ungerechtigkeit“ nennt sich ein kleiner Gundermann – Nachmittag, zu dem mich der Büchnerclub in Gießen eingeladen hat. Als amtlicher bestallter „Wutkünstler“ fällt mir das meist schwer mit dem Tragen von Ungerechtigkeiten. Ein früher Lehrmeister in der Sache „Dem Unvermeidlichen ins Auge geblickt“ war mir der nun verstorbene Hans Tilkowski. 1966 – noch keine zehn Jahre alt – dürfte ich erstmals bei Bekannten der Eltern abends Fußball gucken. Borussia Dortmund gewann als erste deutsche Mannschaft den Europapokal der Pokalsieger. Schwarzweiß der Apparat, es grieselte über den Bildschirm und in Glasgow war es regnerisch und nebeltrüb, meine Wimpern sackten hinab, aber ich stellte mich wach. Ob ich diese seltsame Bogenlampe des Stan Libuda zum 2 zu 1 wirklich sah, damals? Ich weiß es nicht. Aber da war noch der Mann mit der coolen Kappe, stand auf der Linie seines Tores, guckte, zuckte und lag dann quer in der Luft. Ewig schien es mir, dem müden Bub, konnte der über dem nicht rasenbeheizten schlammigen Boden schweben. Robinsonade nannte man das einst. Der Hans Tilkowski, mein – trotz Siggi und Emma – HELD ward geboren. Ein paar Wochen später – unsere Familie durfte das erste Mal nach 10 Jahren auf Verwandtenbesuch in die DDR  – sah ich ihn wieder. Vor der Reise nahm unser Vater meinen Bruder und mich ins Gebet. Kein schlechtes Wort über Russen, den Kosenamen Iwan tunlichst vermeiden! War gar nicht nötig. Mir gefielen die martialischen Plakate und Wandgemälde mit all den HELDENHAFTEN Bauern und Arbeitern. Drachentöter allenthalben. Dann der Endspieltag im Wembley und wir in Ilmenau. Die erste und zweite Halbzeit klemmten mein Bruder und ich in der Wohnung der Oma vor dem Radiogerät und die Großen saßen unterm Dach bei den Nachbarn mit dem gutem Westfernsehempfang. Haller machte die Führung und dann antworten die Engländer zweimal. Sind wohl einfach besser. Niederlage annehmen. Feuchte Augen. Nach Wolfgang Webers Ausgleich kurz vor Schluß platzte unser euphorisierter Vater ins Zimmer und holte uns – die wir nicht minder in die Höhe hüpften – mit nach oben. Wieder schwere Nebelschwaden, doch diesmal kein britischer Nebel sondern etliche abgebrannte Caros, glimmende Zigarren, Biere und Wodka, die den kleinen Raum undurchsichtig machten. Dichtgedrängte Lebensfreude. Die Verlängerung. Dann der historische Moment. Natürlich nicht hinter der Linie. Der Schweizer traut sich nicht, er fragt den Russen an der Außenlinie und jener entscheidet: „TOR!!!“ Tumulte brechen aus in der Dachwohnung in der Straße des Friedens zu Ilmenau. „Der blinde Drecksiwan!“ „Das ist doch Betrug!“ „So sind se halt, unsere Brüder in Moskau!“ Und so weiter und so fort. Man fordere keine textgetreue Erinnerung. Ich war mir sicher in wenigen Minuten würde eine bewaffnete Kohorte der glorreichen ROTEN ARMEE das Haus stürmen und uns alle mitnehmen. Aber es kam anders. Die vernebelte Bude beruhigte sich, sie tröstete die Kinder, kippte den einen und den anderen nach. „Aber gekämpft ham se!“ Man war trainiert in der Causa Ungerechtigkeit. Mit ziemlich vertränten Augen guckte ich hin wie der HELD Tilkowski und unser aller UNS UWE den Engländern gratulierten. Und das sah in meiner nebeltrüben Erinnerung aufrichtigst aus. Wünschte ich mir das alles gar nur? Nein: es war so.

(gießen, den 27. dezember 2019) Was bleibt von diesem Zweitausendneunzehn? Gestern Abend saß ich vor der Glotze (Theaterschaffende bekennen zwischen den Jahren!) und sah erst Frank - Walter Steinmeiers Weihnachtsansprache und dann Florian Silbereisens Traumschiffeinstieg. Ich konnte die zwei Figuren leider nicht auseinanderhalten. Wahrscheinlich hatten die beiden den selben inhaltsbefreiten, effekthaschenden, grottenschlechten Regisseur am Hals. Oder der Drehbuchautor hat über das gerne in unsere zahlreichen gesellschaftlichen Konfliktarenen eingeworfene Totschlagargument "Kognitive Dissonanz" (auf gut deutsch: Faulheit aka Feigheit = Die Macht der Gewohnheit aka SORRY!) promoviert. Man erzählt halt nüscht. Und das ohne Rückgrat! Apropos Inszenierungen: Mit der Resonanz auf meine drei Regiearbeiten dieses Jahr darf ich zufrieden sein, in jeglicher Hinsicht. Momentan läuft der Gundermann in Gießen stets vor ausverkauftem Haus. Schaun mer mal wie lange noch. Ansonsten hat sich in den letzten Monaten bei mir viel noch zu ordnender Krempel angesammelt. Mal abwarten, welche Erkenntnisse und Taten sich daraus fürs nächste Jahr ergeben. Allen die hier auf dieser Seite vorbeischauen wünsche ich für Zweitausendzwanzig: Alles Liebe / Gesundheit / erfreuliche Kontoauszüge / Wetter ohne Klima / Lachfalten ohne falsches Grinsen / Christian Streich werde Bundespräsident / Bitte nicht Konrad Adenauer als Nachfolger von Frau Merkel / Das nächste Jahr keine Weihnachtsmärkte mehr / Ohne Pedelec einen Berg hoch kommen / Gut geschmierte Bandscheiben auf wohlmeinenden Matratzen / Humor, Humor, Humor / Wider die Macht der Gewohnheit fähig sein / Gelassen vor sich hin scheitern können / Mehr Gesundheit / Weniger Vorwürfe / Einwürfe weiterleiten / Abschaffung des Videobeweises /  Ohne Belohnung sich empören dürfen / Auch mal müde sein wollen /  Und dies und das auch noch / Alles Liebe. Das bleibt und wird!

(gießen, den 17. november 2019) Seit gestern sehe ich mich in der Lage mir zu freuen. Auf der Premierenfeier saß ich noch rum wie ein Stück Braunkohle. Findlinge fielen mir zwar vom Herzen ab, aber die Freude lag weiter unter einer dicken Abraumhalde namens Erschöpfung begraben. Alles in allem: Es hat funktioniert. Wir vier haben es gemeinsam über die Ziellinie getragen. Und das gut! Auf der Bühne und neben und hinter der Bühne - irgendwann mußte ich den Regisseur Lugerth nach Hause schicken, damit der Schauspieler und Teilzeitmusikus Lugerth zu seinem Recht kommt - haben die taT - Technik unter der gewissenhaften Leitung einer großartigen Assistentin und einer sehr zugewandten Dramaturgin das Ding zusammengehalten. Und ich habe es geschätzt kritisiert zu werden! (Großartig die wunderbare Theresa: "Ah, Christian, hast Du mal wieder in den Text geschaut?") Wann auch? Vier bis fünf Funktionen in einer Produktion: schon ordentlich. Auch ohne nerviges Drumherum. Ein herzliches Publikum, der beste Freund angereist aus Nemmberch, einiges an "Gießener Adel", Wodka noch in der Küche spätnachts und gestern gute Presse. Mal vom offeneren Osten hinschauend, mal vom etwas scheuverklappten Westen her. Der Vorverkauf läuft flott an. Abschiede klopfen an die Türen. Davon später.